Als Rewilding bezeichnet man die Wiederherstellung des Gleichgewichts in einem ökologischen System. Es scheint, nur wir Menschen haben niemanden, der uns wieder ins Gleichgewicht bringt. Durch Technik und Frühwarnsysteme bilden wir uns ein, wir können sogar die Gewalt der Natur kontrollieren. Bis eine Naturkatastrophe über uns hereinbricht und wir feststellen müssen, wir können uns nicht über Mutter Natur erheben. Ich wünsche niemandem eine Naturkatastrophe herbei. Ich wünsche nur uns allen, dass wir uns wieder mehr in die natürlichen Gegebenheiten integrieren, unser ökologisches System kennen und wertschätzen lernen – uns selbst wieder „rewilden“.
Mein kleiner Bruder begeht seit Jahren den Weg des Tierschützers und hat das Konzept des Rewildings ziemlich kompakt erklärt: Stell dir vor, in einem Ökosystem wie dem Böhmerwald, wo ich meine Wahlheimat gefunden habe, gibt es keine natürlichen Feinde mehr für Rehe. Die Rehe werden bequem, lassen sich an ihrem Lieblingsplatzerl nieder und essen dort immer die gleichen Pflanzen, die möglicherweise nach und nach mit ihren eigenen Fäkalien verseucht werden. Die Rehe werden entweder träge und krank und rotten sich auf lange Sicht selber aus oder sie nehmen Überhand und rotten gewisse Pflanzen aus.
Ist ein Ökosystem im Gleichgwicht, profitieren Pflanzen, Tiere und der Mensch. Auch unser Ziel darf es wieder werden, Teil eines Ökosystems zu sein.
Führt man in diesem Szenario einen natürlichen Feind, wie den Wolf ein, hält dieser die Rehe auf Trab. Sie wechseln ihre Futterstelle häufiger, was dazu führt, dass Pflanzen gleichmäßiger niedergegrast werden. Und natürlich ist es auch Teil dieses Ökosystems, dass kranke und träge Tiere leichte Beute darstellen – eine Tragödie für den einzelnen, auf das ganze System aber überaus hilfreich.
Und damit möchte ich bitte nicht zum Ausdruck bringen, dass kranke und träge Lebewesen es nicht verdient haben, am Leben zu bleiben. Ich möchte die Aufmerksamkeit gerne dahin lenken, dass die Möglichkeit besteht, dass die kollektive Bequemlichkeit einer gesamten Spezies das Potenzial hegt, diese am Ende des Tages selbst auszurotten.
Jetzt lasst uns die Frage stellen, wie hier der Mensch ins Spiel kommt. Der Mensch hat de facto keine überlegene Spezies mehr. Das einzige, was ihn im Zaum hält, ist die Gewalt der Natur, wenn sie sich in Tornados, Überschwemmungen oder anderen Naturkatastrophen niedeschlägt. Abgesehen davon, ist der Mensch sich selbst der größte Feind und bringt es zustande, sich gegenseitig durch Verfolgung, Gewalt und Kriege zu minimieren. Eine Tatsache, die in der Volkswirtschaft als natürliche Bevölkerungsregulierung angesehen wird, aber auch hier schlichtweg eine Tragödie für den einzelnen und seine Angehörigen bedeutet.
Wir sind die einzige Spezies, die es aktuell fertig bringt, sich die Überlebensgrundlage selbst zu nehmen. Wir laugen unsere fruchtbaren Böden aus, pflastern die Flächen, die uns vor Überschwemmung bewahren mit Asphalt zu. Wir heizen unser Häuser im Winter auf 21,7° Celsius auf (das ist nicht mein Hirngespinst, sondern eine Zahl laut der Österreichischen Datenbank Statista aus dem Jahr 2019) und beginnen damit, sie im Sommer mithilfe von Klimaanlagen herabzukühlen. Wir entleeren die Meere von Fischen und bringen dafür einen Haufen Plastik ein. Und statt uns über den Gartenzaun über das Wetter auszutauschen, verbringen wir im Schnitt 3,4 Stunden am Tag vor dem Handy und nochmal 3 Stunden vor dem Fernseher (wieder: laut Statista, nicht laut mir) und sind fühlen uns dabei einsamer als je zuvor.
Wir sind dabei, uns selbst unsere Lebensgrundlage zu nehmen. Wir zerstören Böden, Pflanzen, Ökosysteme und das Klima. Lasst uns stattdessen wieder in Verbindung gehen mit der Natur - jeder auf die Weise, die ihn anspricht.
Wie können wir dem also entgegenwirken? Mein bescheidener Vorschlag wäre, dass sich jeder selbst die Frage stellt, was „Rewilding“ für ihn selbst bedeutet. Wohnst du, wie ich, auf dem Land und hast die Möglichkeit, dein eigenes Ökosystem zu gestalten, ein Stück Boden langfristig aufzubessern und hier die Artenvielfalt zu fördern? Oder lebst du in der Stadt und hast die Möglichkeit, dich umweltfreundlich auf dem Rad oder zu Fuß fortzubewegen?
Wofür auch immer du dich entscheidest, hier mein Appell: mach dich mit deinem Ökosystem vertraut! Geh zu Bett, wenn es draußen dunkel wird und steh auf, wenn die Sonne aufgeht. Auch wenn letzteres im Winter um 8 und im Sommer um 4:30 Uhr ist. (Nur zum Ausprobieren; mir ist bewusst, dass das meistens nicht möglich ist.) Zieh deine Schuhe aus und spür barfuß ein Stück Erde unter dir. Lausche den Tierstimmen, die in deiner Umgebung Laute von sich geben. Geh bei Regen und Sturm nach draußen und spür die Kraft der Natur. Tanz im Schnee – spür die eisige Kälte, die in unseren Breitengraden dafür sorgt, dass zahlreiche für den Menschen giftige Lebewesen nicht durch den Winter kommen. Und genieß die Trägheit an heißen Sommertagen, an denen sich Gemüse wie Paprika und Tomaten über die hohen Temperaturen freuen. Lerne eine Pflanze in deiner Umgebung kennen – ist sie essbar oder giftig? Wann und wie blüht sie? Wie riecht sie?
Es gibt unzählige Möglichkeiten, wieder mit der Natur in Kontakt zu kommen, dein Ökosystem kennen zu lernen und sich deinen natürlichen Gegebenheiten wieder ein Stück weit einzuordnen. Ich lade dich dazu ein, es einfach auszuprobieren, Tag für Tag, einen ganz kleinen Schritt nach dem anderen, und zu sehen, was passiert. Fühlst du dich nun verbundener? Weniger einsam? Fällt es dir leichter, ein- und durchzuschlafen? Wachst du morgens erholter auf? Werden dein Augen, dein Gehör und dein Geruch feinfühliger? Und gehst du nun ein Stück geerdeter und respektvoller durch das Leben?